Clair Obscur: Expedition 33 – Ein Fiebertraum zwischen Dunkelheit und Hingabe
Ein Auftakt im Schatten des Unmöglichen
Clair Obscur: Expedition 33 beginnt nicht mit dem üblichen Aufwärmen, nicht mit jener gemächlichen Einführung, die Rollenspiele oft wählen, um den Spieler erst einmal an der Hand zu nehmen. Nein, dieses Werk eröffnet mit einer Begegnung, die zugleich grotesk und majestätisch wirkt: ein uralter Mann, der eigentlich nicht existieren dürfte, tritt ins Bild und zerreißt das Selbstverständnis der Welt. Sein Auftauchen markiert den Wendepunkt, an dem Expedition 33 von einer Mission der Hoffnung in eine verzweifelte Odyssee kippt. Zurück bleibt eine Handvoll Überlebender, geschlagen, gebrochen, aber mit einer Pflicht beladen, die sie auf den Main Continent treibt, ein Reich voller Risse, Brüche und unheilbarer Wunden. Schon hier wird klar, dass das Spiel keine Märchenreise erzählen will, sondern ein düsteres Drama, das seine Helden nicht glorifiziert, sondern menschlich zermürbt.
Die Abwesenheit von Orientierung als Prinzip
Clair Obscur verweigert sich demonstrativ den modernen Komfortfunktionen. Wer Dungeon-Design heute mit Mini-Maps, Wegpunkten und blinkenden Markierungen verbindet, wird hier kalt abserviert. Das Spiel lässt den Spieler bewusst im Ungewissen, entzieht ihm die Krücken der Genregewohnheit. Keine Questmarker, keine künstliche Stimme im Ohr, die sagt: „Gehe nach links.“ Stattdessen müssen Augen und Intuition arbeiten. Jeder Raum, jede Statue, jede Wandritze trägt Bedeutung, und nur wer aufmerksam bleibt, entdeckt den verborgenen Weg. Diese Entscheidung ist radikal, aber sie passt perfekt zu einem Spiel, das mehr sein will als ein weiteres hübsches PS5-Rollenspiel im Überangebot der Blockbuster. Es fordert von seinem Publikum dieselbe Hingabe, die auch die Figuren selbst aufbringen müssen.
Wer hier seine PS5-Spiele kaufen will in der Hoffnung auf schnelles, gefälliges Entertainment, könnte enttäuscht werden. Clair Obscur ist kein Konsumprodukt zum Wegspielen, sondern ein Ritual, das Konzentration und Demut einfordert.
Inhalt statt Füllmaterial
Die größte Tugend von Clair Obscur liegt in seiner kompromisslosen Philosophie: Nichts ist überflüssig. Es gibt kein Aufblähen der Spielzeit durch bedeutungslose Fetch-Quests, kein Logbuch voller Ablenkungen, das den Spieler wie eine To-do-Liste abarbeitet. Jeder Schritt, jeder Dialog, jedes kleine Geheimnis besitzt Relevanz. Wer sich hier aufhält, verinnerlicht die Welt nach und nach, baut eine organische Beziehung zu den Orten und den Mythen auf, statt durch Icons von Punkt zu Punkt getrieben zu werden. Es ist eine Haltung, die man schon lange vermisst hat, gerade in einem Markt, der sich oft in repetitiven Belohnungsschleifen verliert.
Man spürt, dass dieses Spiel aus einem Geist stammt, der bewusst gegen den Strom schwimmt. Es erinnert an die ersten Male, als man Dark Souls betrat und die Spielwelt mehr lehrte als jeder Bildschirmtext. Clair Obscur überträgt diesen Gedanken in ein narrativeres, melancholischeres Gewand.
Architektur der Verlockung und der Reibung
Das Leveldesign ist das Herzstück dieser Reise. Räume und Landschaften sind so gebaut, dass sie den Spieler zum Erkunden verführen. Eine kleine Lücke im Gestein, ein Turm am Horizont, ein merkwürdig arrangierter Altar – stets lockt etwas, stets deutet die Architektur selbst auf Belohnungen hin. Die Entwickler verstehen es, Neugier als Motor einzusetzen.
Doch selbst Meisterwerke sind nicht frei von Fehlern. Gelegentlich stößt man auf unsichtbare Mauern, die wie eine Erinnerung daran wirken, dass auch diese Welt nur ein Konstrukt ist. Solche Momente unterbrechen die sonst makellose Immersion und kratzen am Anspruch. Es sind kleine Brüche, aber sie fallen auf, gerade weil das Spiel an so vielen Stellen exzellent in seiner räumlichen Logik funktioniert.
Eine Expedition der Menschlichkeit
Die wahre Größe von Clair Obscur liegt jedoch nicht allein in seiner Architektur oder seinen Mechaniken, sondern in den Figuren, die diese Expedition tragen. Gustave, der Anführer wider Willen, braucht ständige Bestätigung, ein Mann, der Stärke spielen muss, während er innerlich zerbricht. Lune dagegen vergräbt sich in obsessive Studien, ihre Art der Verdrängung ist Wissen, fast schon fanatisch in ihrem Versuch, Kontrolle über das Chaos zu gewinnen. Beide Figuren sind mehr als Archetypen. Sie sind verletzlich, unsicher, getrieben von Ängsten, die jeder Spieler nachempfinden kann. Ihre Dialoge haben Gewicht, ihre Dynamiken entwickeln sich nicht entlang von Genre-Klischees, sondern aus echter, nachvollziehbarer Psychologie.
Dieser Mut zur Schwäche unterscheidet Clair Obscur von vielen Rollenspielen, die ihre Helden eher in Karikaturen von Mut, Kraft oder Weisheit verwandeln. Expedition 33 fühlt sich wie eine Truppe von echten Menschen an, die überfordert sind von einer Aufgabe, die sie nicht stemmen können.
Kontraste im Genre
Man kann Clair Obscur nicht besprechen, ohne die Genrelandschaft zu berücksichtigen, in der es erscheint. Wo andere Spiele auf schrille Übertreibungen setzen – wie ein mögliches Borderlands 4, das sich zweifellos erneut in exzessiver Beute und ironischem Ton verlieren wird – wählt Expedition 33 den entgegengesetzten Ansatz: Ernsthaftigkeit, Stille, Gewicht. Dieser Kontrast macht es zu einer Art Gegenmittel gegen die Dauerironie des Mainstreams.
Vergleiche mit kommenden Prestigeprojekten wie Black Myth: Wukong drängen sich ebenfalls auf. Beide Spiele teilen eine kompromisslose visuelle Vision und einen Respekt für Mythen und kulturelle Erzählungen, doch während Wukong von einem mythologischen Überbau lebt, bleibt Clair Obscur zutiefst menschlich, zutiefst im Hier und Jetzt verankert. Es erzählt nicht von unsterblichen Affenkönigen, sondern von verletzlichen Menschen, die unter einer unbarmherzigen Last beinahe zusammenbrechen.
Die Melancholie als Soundtrack
Neben der visuellen Gestaltung darf man die akustische Dimension nicht vergessen. Clair Obscur arbeitet mit leisen, melancholischen Klängen, die fast mehr wie Atemzüge wirken als wie klassische Soundtracks. Die Musik unterstreicht die emotionale Fragilität der Figuren, verstärkt die Einsamkeit der weitläufigen Areale und verzichtet auf den bombastischen Lärm, der viele Blockbuster begleitet.
Es ist ein Spiel, das seine Stille zelebriert. Ein Werk, das dem Spieler Raum gibt, die eigene Melancholie einzubringen, anstatt ihn mit Dauerbeschallung zu übertönen.
Ein Werk des Widerstands
Clair Obscur: Expedition 33 ist kein leichtes Spiel, und es will auch keines sein. Es ist eine bewusste Provokation gegen den Überfluss an Komfort, gegen die Illusion von Macht und Kontrolle, die Rollenspiele so oft verkaufen. Stattdessen zwingt es zur Achtsamkeit, zu Geduld und zu echter Auseinandersetzung mit den Figuren und der Welt.
Wer die Geduld aufbringt, wird mit einem Erlebnis belohnt, das sich wie ein rares Relikt anfühlt: ein Spiel, das weder Zeit verschwendet noch den Spieler verhätschelt, sondern ihn in die Dunkelheit schickt mit der Forderung, selbst Licht zu entzünden.
Und so bleibt am Ende nicht nur die Erinnerung an Gustave und Lune, an das Schicksal der Expedition, sondern auch die Erkenntnis, dass sich Videospiele immer noch gegen Konventionen stemmen können. Clair Obscur ist ein Spiel, das Respekt verlangt, ein Spiel, das nicht auf schnellen Konsum abzielt, sondern auf nachhaltige Wirkung.
Schlussgedanke
In einer Industrie, die allzu oft den kleinsten gemeinsamen Nenner bedient, ist Clair Obscur: Expedition 33 ein Statement. Es ist unbequem, fordernd, aber von seltener Schönheit. Wer es wagt, die Expedition auf sich zu nehmen, wird ein Werk erleben, das den Begriff „Rollenspiel“ neu definiert.
Wer bereit ist, in diese düstere Reise einzutreten, sollte nicht zögern, Clair Obscur: Expedition 33 kaufen, denn selten war die Einladung in eine gebrochene, aber faszinierende Welt so zwingend.








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